Im Kino
Gerade war ich im Kino. Les Misérables.
Nach fünf Minuten Film habe ich mich gefragt: Singen die jetzt die ganze Zeit, oder was? Die Antwort: Ja. Hundertsechzig Minuten Gesang, Geträller und Dramatik. Überwiegend Geträller und Dramatik. Gegen Dramatik habe ich nichts einzuwenden, wenn sie nicht zu dramatisch, sondern ernst zu nehmen ist. Gegen Leinwandgeträller hingegen habe ich Einwände. Frauchen, die selbst ihr letzen Atemzug noch singend dahin hauchen, selbstverständlich im harmonischen Duett mit der geheimen/ großen/ wahren Liebe, will ich mir nicht anschauen.
Deshalb mache ich um sogenannte "Musicalfilme" - welch ein Wort, entweder ist es ein Film oder ein Musical, eine Mischung kann leicht misslingen und sollte deshalb vermieden werden - meist einen großen Bogen. Ausnahme: Sweeney Todd, aber der ist von Tim Burton und mit Johnny Depp, das ist also was völlig anderes.
Heute gab es keinen Johnny Depp, sondern stattdessen französische Namen und Wörter, missbraucht von der englischen Sprache, die wiederum lieblos und nachlässig in deutsche Untertitel gezwängt wurde.
Aber ich bin es selbst schuld. Selten gehe ich ins Kino ohne mich davor zu informieren, wofür ich mein Geld ausgeben werde. Heute war dies allerdings der Fall und daraus habe ich gelernt. Obwohl: Hätte ich mich vorher informiert, wäre ich vermutlich trotzdem rein gegangen.
Weil der Film mehrere Oscars bekommen hat und weil die Besetzung so schön hochkarätig ist, wobei das gewiss miteinander zusammenhängt. Russell Crowe als hasserfüllter Bösewicht, der sich letztendlich singend in den Tod stürzt, da er erkennt, dass er Hugh Jackman gar nicht mehr hassen kann, weil dieser ihm das Leben gelassen hat (lange Geschichte), ist wirklich gut, zugegeben, und bei seinen Liedern habe ich im Gegensatz zu den anderen nicht den Wunsch verspürt, sie mögen schnell zu Ende gehen. Helene Bonham Carter ebenfalls hervorragend, wie immer eigentlich, sie und ihr Kompagnon Sacha Baron Cohen, der mir bisher noch kein Begriff war, bringen wenigstens ein paar Lacher in den Film, der sich ewig hinzuziehen scheint. Noch ein Lied. Und noch ein Lied. Und noch eins.
Hätte ich mich vorher informiert, hätte ich gewusst, dass Eddie Redmayne eine wichtige Rolle spielt. Und dann hätte ich den Film um jeden Preis sehen wollen, ja, den Überlängenzuschlag hätte ich sogar mit einem Lächeln auf den Lippen bezahlt. Eddie Redmayne, ich kannte ihn als rothaarigen Hexensohn aus Die Säulen der Erde, finde ich großartig. Ich mag ihn, egal, wie viel er singt. Noch dazu ist er in diesem Film ein wahrer Held. Ein Held, der als Einziger überlebt, während all seine Freunde und auch das dunkelhaarige Mädchen, das ihn schon viel länger kennt und liebt als seine Liebe auf den ersten Blick, für ihr Ideal sterben. Er überlebt, weil Hugh Jackman, der Ziehvater der Liebe auf den ersten Blick, ihn rettet. Der Held überlebt also und macht sich nur kurz Vorwürfe, weil alle anderen nur er nicht ihr Leben aufgegeben haben für ihr Ideal, denn eigentlich ist nicht das Ideal das Ideal, sondern das Sterben für das Ideal ist das Ideal.
Von den trüben Gedanken und Selbstvorwürfen lenkt ihn nämlich seine Liebe auf den ersten Blick ab, das blonde Mädchen, das er gestern zum ersten Mal gesehen hat und morgen schon heiraten wird. Amanda Seyfried, die auch schon in Mamma Mia! ihr Geträller zum Besten geben konnte, mag ich ja jetzt nicht so und nicht bloß deswegen, weil sie ihn heiratet und nicht ich, auch wenn das natürlich ausschlaggebend ist. Das Blonde siegt, der Held lebt und - um die Dramatik nich zu kurz kommen lassen - der Ziehvater stirbt am Tag der Hochzeit und findet endlich seinen Weg in die Arme der toten Mutter seiner Ziehtochter, Anne Hathaway, der kurze Haare sehr gut stehen.
Tränen, Gesang, Abspann.
Ich bleibe sitzen und frage mich: Haben die jetzt tatsächlich den ganzen Film gesungen? Und ich habe es ertragen? Die Antwort: Ja.
Ich glaube,
ich bin wieder da.
Beim Arzt
In Praxis Nr. 1
Älterer Mann, legt seine Krankenkassenkarte auf den Tresen: Ich bin neu hier.
Sprechstundenhilfe, unwillig: Wir können keine neuen Patienten nehmen, der Doktor hat schon so viele.
- Wo soll ich denn dann hin?
- Gehense ins Einkaufszentrum.
Ich, hole meine Karte gar nicht erst raus: Hallo, keine neuen Patienten, sagten Sie?
- Genau.
- Alles klar, danke, tschüss.
Im Einkaufszentrum, Praxis Nr. 2
- Hallo, ich war noch nie hier, Sie nehmen doch neue Patienten, oder?
- Na, aber sicher. Der Dr. R. wäre frei. Wenn Sie sich noch ein paar Minütchen in den Wartebereich setzen würden, der Doktor ruft sie dann gleich auf.
Im Wartebereich, ich habe ein Buch dabei, brauche es aber nicht, mir wird beste Unterhaltung geboten:
Ein Name wird ausgerufen, eine Frau erhebt sich. Gleichzeitig springt ein Mann wütend von seinem Stuhl auf, laut fluchend, und beginnt, die Empfangsdamen zu beschimpfen.
- Was soll das? Ich warte doch schon viel länger, das kann doch nicht sein, was für ein Laden ist denn das hier!
- Wir können da leider auch nichts machen, die Frau Doktor ruft die Patienten rein.
- Nein, Sie machen das!
- Nein, die Frau Doktor macht das. Wir tun ihr nur die Namen auf den Computer und sie ruft die dann auf.
- Nein, Sie machen das!
- Ich habe ihnen doch eben erklärt, dass
- Sie machen das, nur Sie, nicht die Frau Doktor!
- Nein, wirklich
- Nein, Sie machen das, lügen Sie nicht!
- Also hören Sie mal
- Nein, ich geh jetzt da rein!
Er geht nicht rein, sondern beginnt, auf und ab zu tigern und aufgebracht in sein Telefon zu sprechen.
Der ältere Mann von vorhin, aus Praxis Nr. 1, kommt rein, ich hatte ihn wohl überholt.
Mein Name wird aufgerufen. Ich mache einen großen Bogen um den wütenden Mann.
Vorm Sprechzimmer. Ein Mann geht zum Arzt rein, der Arzt kommt raus.
- Tut mir Leid, Sie müssen noch etwas warten, Computer, murmelmurmelmurmel.
Der Arzt geht offenbar eine rauchen.
Computermensch kommt raus, Arzt geht rein.
- Darf ich jetzt reinkommen?
- Ja, kommense rein. Muss den Computer hochfahren, dauert was.
Langes Schweigen.
- So, wie war Ihr Name noch mal?
Ich buchstabiere.
- Und um was geht's?
- Also ich hab hier ein Muttermal, könnten Sie da mal einen Blick drauf werfen und mir dann vielleicht ne Überweisung zu nem Hautarzt geben?
- Zeigense mal.
Oberteil aus, Oberteil an.
- Moment, ich komm gleich wieder.
Einige Warteminuten, dann kommt er wieder rein, gefolgt von einem kleinen dicken Mann im Doktorkittel und weißem Rauschenbart.
Neuer Arzt: Na dann, lassen Sie mal sehen. Warten Sie, ich mach erst die Tür zu.
Oberteil aus, Oberteil an.
- Aha, a ja, so so. Also dann schreiben Sie das und das in die Überweisung, weil Sie wissen ja, gutartig, bösartig und so weiter. Aber eigentlich muss man dafür gar nicht zum Hautarzt, wir können das auch hier raussschneiden.
- Na, muss ja die Patientin wissen, wa?
Ihre Blicke richten sich auf mich. Rausschneiden? Schluck.
- Lieber erstmal zum Hautarzt, bitte.
- Na, wennse meinen.
Ich verlasse die Praxis, vom brüllenden Mann keine Spur mehr.
Zu Hause
Telefonat mit Hautarzt Nr. 1
- Hallo, ich würde gerne einen Termin machen.
- Mit den Terminen sind wir im Januar.
- Ähm, wie bitte?
- Mit den Terminen sind wir im Januar.
- Und das heißt?
- Sie können einen Termin im Januar bekommen.
- Ne, dann lieber doch nicht, danke.
Telefonat mit Hautarzt Nr. 2
- Hallo, muss man bei Ihnen einen Termin machen oder geht's auch ohne?
- Sie könne gerne einfach reinkommen, aber dann hamse ne sehr lange Wartezeit.
- Na, dann gerne einen Termin.
- Wir hätten erst im November erst wieder einen.
- Na gut.
ebee am 01. Oktober 12
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An die Leute, die meinen Laptop entwendet haben:
Ihr seid ein niederträchtiges, böses, hinterhältiges und verabscheuungswürdiges Pack.
Sie sitzen sich gegenüber. An einem Tisch auf der Terrasse ihres kleinen Lieblingscafés, direkt am Meer. Die Besitzerin bringt ihnen die bestellten Getränke und beachtet sie danach nicht weiter. Sie stört sich auch nicht daran, als sie die an anderen Orten gefürchteten, nicht gern gesehenen, oftmals sogar untersagten, selbst mitgebrachten Speisen hervorholen. Sie sitzen sich gegenüber und essen Kartoffelchips und Sandwiches. Chips und Sandwiches, die nach Sommer schmecken und nach Meeresluft, nach Freiheit und Zeitlosigkeit. Sie sehen sich an und sie lächeln sich an. Und sie reden. Nicht zu laut, nicht zu viel, er mehr als sie. Er, in seinem dunkelblauen Pullover, den sie so an ihm liebt. Er redet langsam und bedächtig, denkt laut, macht Pausen, um an seiner Selbstgedrehten zu ziehen. Dann schauen sie beide dem Qualm nach, der sich langsam auflöst vor dem sommerblauen Himmel. Er nimmt das Wort wieder auf, Gedanke folgt auf Gedanke. Manchmal berühren sich ihre Hände in der Chipstüte oder auf dem Weg dahin, dann müssen sie beide grinsen, jedes Mal, völlig unwillkürlich. Sie begnügt sich damit, ihm zuzuhören, ihn anzusehen, mehr braucht sie nicht. Sie lässt sich forttragen von seiner Stimme und versinkt gleichzeitig in der Betrachtung ihres Gegenübers. Sie will sich alles genau einprägen, jedes Detail dieses Moments, nie mehr etwas davon vergessen. Das Meer zu ihrer Linken, unendlich blau, unendlich weit. Der Himmel über ihnen. Der Geruch der sonnengewärmten hölzernen Tische und Stühle. Er, der ihr gegenüber sitzt. Ungekämmt, mit Dreitagebart und zerissenen Jeans. Hier müssen sie nicht aussehen wie jemand, der sie nicht sind. Hier können sie sein. Sie sind. Glücklich.
Als es ihnen zu kühl wird, gehen sie zurück zum Auto. Fast vergessen sie, zu bezahlen. Sie setzen sich ins Auto, lesen, hören Musik, leise, schauen aufs Meer, auf den Horizont. Ihr steigen die Tränen in die Augen angesichts so viel Schönheit. Die Schönheit des Moments, der Welt, ihrer und seiner Welt, die sie sich geschaffen haben. Aber auch angesichts des Gedankens, dass sie bald, allzu bald wieder ohne ihn im Auto sitzen wird. Er wird dann viel zu weit weg sein, nicht mehr zum Greifen nahe. Und sie, die niemals von sich gedacht hätte, dass sie zum Glücklichsein jemand anderen braucht, wird alleine sein.
An den Frühling
Frühling,
du kommst.
In Gestalt von Männern, die mit Stolz ihre Autos in den Auffahrten waschen.
Gartenschlauch und Schwamm, Bierbauch und Unterhemd.
Als Wäsche, die auf der Leine flattert, von beschürzten Hausfrauen aufgehängt.
Gartenzaungespräche mit der Nachbarin. Jammern, klagen, hinterfragen.
Frühling,
du kommst.
In Form von Straßenmalkreide. Bunter Staub, der sich in den Kleidern festsetzt.
Fahrrad fahren, Banden gründen, Knie aufschürfen.
Bloße Füße im viel zu kalten Bach, Picknick im Baumhaus, von der Sonne gewärmt.
Frühling,
du kommst.
Und bringst vermisste Gerüche.
Grillkohle, grünes Gras, warmer Regen.
Und bringst vermisste Geräusche.
Vogelgezwitscher, Wasserplätschern, Kinderlärm.
Und du bringst die Farben wieder.
Frühling,
du kommst.
Mit Sang und Klang.
Hast den Geschmack von Sommer auf der Zunge.
Machst Lust auf mehr.
Frühling,
du kommst.
Frühling,
du bist.
Da.
Die beste Freundin ruft an. Die beste Freundin, die sich selbst dazu ernannt hat, sich selbst diesen Titel gegeben hat, einfach so, vor einigen Jahren, ganz ohne mich zu fragen. Ich hätte gewiss nicht nein gesagt, aber gefragt worden wäre ich schon gerne. So wie früher in der Grundschule. Willst du meine beste Freundin sein? Ja? Nein? Ein Vielleicht steht bei einer so wichtigen Frage gar nicht zur Debatte.
Die beste Freundin, die oft, jedenfalls öfter als ich, solche Sätze sagt, die schon so häufig gesagt worden sind, dass sie ausgewaschen, leer klingen, solche Sätze, dass Freundinnen doch eben dafür da sind - wofür, das erklärt sie nie näher - oder, dass sie nicht weiß, mit wem sie sonst reden könnte, ruft an.
Unsere Freundschaft basiert auf einem einfachen Prinzip: Wenn wir nichts voneinander hören, können wir davon ausgehen, dass es dem jeweils anderen gut beziehungsweise nicht schlecht geht. Wenn jemand Redebedarf hat, wird telefoniert. Meistens ruft sie an. So auch jetzt.
Sie redet. Sie erzählt. Von guten und nicht so guten Erlebnissen, von guten und nicht so guten Begegnungen, von Feiern. Den guten Feiern, schlechte gibt es bei ihr nicht. Feiern, bei denen ich nicht dabei sein konnte, meistens auch nicht dabei sein wollte. Ich höre zu. Höre zu, wie sie sich und mich fragt, ob sie sich in einer speziellen Situation nicht anders hätten verhalten sollen, besser, wie ich gehandelt hätte, will sie wissen. Sie wartet nicht auf eine Antwort von mir, das finde ich angenehm, ich höre lieber zu. Ich höre zu, wie sie laut denkt. Höre mit, denke mit. Höre leise, denke leise.
Die beste Freundin spricht über ihre Gefühle, ihre Gedanken, über alles, was sie beschäftigt. Völlig frei, völlig offen. Das mache ich selten, bisher habe ich darin nie eine Notwendigkeit gesehen. Ich mache die Dinge lieber mit mir selber aus. Das weiß sie, das akzeptiert sie, das schätze ich an ihr. Trotzdem möchte sie gerne meine Meinung hören. Meine Meinung zu was genau? Zu allem. Zu ihren Geschichten, ihren Gedankengängen. Obwohl ich gerne zuhöre, höre ich nicht immer zu. Bei ihren Erzählungen begeben sich meine Gedanken oft auf Wanderungen, ich weiß nicht wohin, vielleicht gehen sie ein paar alte, lang zurück liegende Erinnerungen besuchen, sie sind immer sehr schweigsam, wenn sie zurückkehren. Die beste Freundin merkt dann an meinen fehlenden Kommentaren, die ich ab und zu einwerfe, um sie wissen zu lassen, dass ich noch da bin, dass ich nicht mehr da bin. Manchmal bin ich woanders, weit weg, höre sie nicht mehr, kann nichts dafür. Anstatt wortlos aufzulegen, holt sie mich mit Fragen zurück, wartet, bis ich wieder ich bin, sie weiß immer, wann ich wieder ich bin, und beginnt erneut, lässt ein paar Kleinigkeiten weg, fasst das Wesentliche zusammen, kommt zu dem Punkt, weswegen sie anruft, zu dem ich mich äußern soll.
Meine Äußerungen fallen meist knapp aus, sehr knapp, alle anderen fänden mich unhöflich, sie nicht. Ich sage ihr meine Meinung, probiere, ein paar Ratschläge zu formulieren, fertig. Mehr fällt mir dazu nicht ein, im Moment nicht. Aber irgendwann, vielleicht in ein paar Tagen, vielleicht in einigen Wochen, in denen ich mir immer mal wieder Gedanken gemacht habe zu ihrem Gesagten, habe ich auch wieder etwas dazu zu sagen. Das weiß sie, darauf kann sie warten, damit kann sie leben. Sie weiß, dass meine Schweigsamkeit nicht als Desinteresse zu deuten ist, vielmehr als das Gegenteil. Sie weiß das, obwohl ich diesen Sachverhalt nie in Worte gefasst habe.
Jeder andere würde sich nach einem Telefonat mit mir vermutlich nicht wahrgenommen, nicht ernstgenommen, vielleicht sogar verletzt oder enttäuscht fühlen. Die beste Freundin tut das nicht. Sie ruft immer wieder an, ist an meine Sprachlosigkeit gewohnt, braucht sie manchmal vielleicht sogar. Deswegen ist sie meine beste Freundin, ich bin froh, dass sie sich selbst dazu gemacht hat.
Und wer weiß, vielleicht rufe ich sie eines Tages sogar an, um ihr genau dafür zu danken.
Das kleine Mädchen in der Latzhose steht auf einem Hocker vor dem Spiegel. Die Bastelschere in der Hand, die Zungenspitze lugt zwischen den Zähnen hervor, sie ist hoch konzentriert. Es ist Samstagmorgen, früher Morgen, die Sonne ist gerade erst verschlafen am Horizont aufgetaucht. Das Mädchen betrachtet sich kritisch. Dann nimmt sie eine Strähne ihres strohblonden Haars und schneidet sie ab. Schnipp. Ein kleines Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Erneut hebt sie die Hand mit der Schere, die nächste Strähne fällt auf das dunkle Parkett. Stück für Stück, Strähne für Strähne, vollkommen ruhig, schneidet sie sich die Haare ab. Vorher schulterlang, jetzt kurz, wie ein Junge. Als sie fertig ist, nimmt sie ihr Werk in Augenschein. Sie ist zufrieden. Ihre Mutter schläft im Nebenzimmer, samstags schläft sie immer lang. Samstag ist auch immer der Tag, an dem fremde Männer am späten Nachmittag das Haus verlassen, selten ist es zweimal derselbe.
Das Mädchen in der Latzhose mit dem kurzen Haar holt den Staubsauger, um ihr langes Haar, das ihre Mutter so liebt, aufzusaugen. In der frühmorgendlichen Stille scheint der Staubsauger noch lauter zu sein als sonst. Bald steht die Mutter in der Tür. Verschlafen, schwarze Ringe vom verwischten Make-Up unter den Augen, eine Zigarette in der Hand. Sie versteht nicht, was sie sieht. Es ist zu laut, zu früh, zu hell. Ist das ihr kleines Mädchen? Was hat sie getan. Was hast du getan, fragt sie benommen, was hast du getan. Das Mädchen macht den Staubsauger aus. Ich habe dir doch so gerne Zöpfe geflochten, Frisuren gemacht, mit Schleifen und Spängchen und allem drum und dran. Schau doch, mein schönes langes Haar, willst du denn nicht so aussehen wie ich?
Das kleine Mädchen antwortet nicht. Es tritt auf die Stelle am Staubsauger, auf die man treten muss, damit die Schnur surrend im Inneren verschwindet. An Regentagen kann man sich damit wunderbar die Zeit vertreiben. Aber heute ist kein Regentag.
Ich gehe jetzt raus, sagt das kleine Mädchen. Die Mutter zieht sich wieder ins Schlafzimmer zurück, dort warten zerwühlte Laken, stickige Dunkelheit und ein fremder Mann auf sie.
Das Mädchen in der Latzhose geht nach draußen und legt sich auf das Trampolin im Nachbargarten. Sie darf das, nimmt sie an. Beschwert hat sich noch nie jemand, wenn sie minutenlang, stundenlang, regungslos auf dem Rücken lag und in den Himmel geschaut hat. Sich im endlosen Blau verloren hat, nach Wolkentieren gesucht hat, sich weggeträumt hat. Vielleicht ist es ein magisches Trampolin, ein Trampolin, das sie unsichtbar macht, sobald sie es betritt.
Aber heute besitzt es keine magischen Kräfte. Schritte nähern sich, das Mädchen kehrt langsam in die wirkliche Welt zurück. Der Nachbarsjunge steht vor dem Trampolin. Er ist älter als sie, nach dem Sommer kommt er schon in die vierte Klasse. Er fragt, ob er auch aufs Trampolin kommen darf. Sie nickt, natürlich, es ist ja seins, aber lieber wäre sie allein. Aber nett ist es schon, dass er fragt. Er legt sich vorsichtig neben sie und sagt kein Wort. Er macht es ihr leicht, sich vorzustellen, sie sei immer noch ungestört. Schon bald ist sie mit den Gedanken schon wieder weit weit fort. Aber irgendwas ist anders. Behutsam, um ihn nicht in seinen Tagträumereien zu stören, dreht sie den Kopf in ihre Richtung. Er hat sie die ganze Zeit angeschaut. Sie sieht seine grünen Augen, seine Sommersprossen. Er lächelt sie an und sagt, die kurzen Haare stehen dir gut. Das Mädchen in der Latzhose sagt nichts, sie lächelt nur still zurück.
Persönliches Albtraumszenario Nummer 1
Ich in zwanzig Jahren:
Nach einem langen und öden Tag im Büro, dessen Highlight die Mittagspause mit meinen ebenso langweiligen und öden Kollegen war, komme ich nach Hause. Nach Hause in die Eigentumswohnung, für die er und ich so hart gearbeitet haben. Mittlerweile haben wir unser Ziel vom trauten Heim, Glück allein, verwirklicht, trotzdem arbeiten wir weiterhin hart. Wir arbeiten und arbeiten, denn was erwartet uns schon zu Hause? Ein familiärer Feierabend, bestehend aus einem gemeinsamen Abendessen und einem anschließenden Aufenthalt vor dem Fernseher. Vermutlich hat er was gekocht, er kommt früher als ich von der Arbeit, einer muss ja die Kinder abholen. Vielleicht gibt's aber auch aus Bequemlichkeit was vom Chinesen oder von der Pommesbude unseres Vertrauens. Ich frage Kind 1, wie es in der Schule war und Kind 2, wie es im Kindergarten war. Beide erzählen mir mit leuchtenden Augen Geschichten, Erlebnisse, Gedanken, aber ich höre nicht hin, nicke nur halbherzig, mit den Gedanken bin ich noch bei meinem Bürojob. Wenn ich aufmerksamer hinsehen würde, würde mir vielleicht auffallen, dass ihre Augen mal heller geleuchtet haben. Er blödelt mit den Kinder herum, bringt sie zum Lachen, bis es darum geht, wer die den Tisch ab- und die Küche aufräumt. Kind 1, du weißt, Mama und Papa haben den ganzen Tag hart gearbeitet, du kannst ruhig mal etwas helfen und Kind 2, du packst auch mit an, in deinem Alter hab ich schon ganz andere Sachen gemacht. Die Kinder machen sich maulend an die Arbeit, fangen an sich zu streiten. Ich weise sie entnervt zurecht. Muss das denn immer sein? Müsst ihr euch immer immer streiten? Wir setzen uns in die Fernsehsessel, er rechts, ich links, er mit Kind 1 auf dem Schoß, ich mit Kind 2. Wir schauen auf die Mattscheibe und haben uns nichts zu sagen. Dann geht es ins Bett, er liest Kind 1 eine Gutenachtgeschichte vor, ich lausche seiner Stimme und erinnere mich vage, dass es mal eine Zeit gab, in der ich nichts lieber gehört habe. Kind 2 nehmen wir mit in unser Bett, es füllt die Leere, den Abstand, die Distanz zwischen uns aus.
Am nächsten Tag dasselbe Szenario. Am Tag danach auch. Dann ist Freitagabend, Wochenende. Er bringt mir in Plastik verpackte Tankstellenrosen mit und ich freue mich darüber. Zur Abwechslung bestellen wir uns Pizza. Für uns gibt es Wein, für die Kinder Limonade. Die Kinder schlafen später vor dem Fernseher ein, wir sind noch wach und sehen uns an. Früher, vor Jahren, konnten wir Stunden damit verbringen, uns anzusehen. Uns in den Augen des anderen verlieren. Wir sahen unser Spiegelbild in den Augen des Gegenüber, fühlten die Magie und dachten, dass es immer so sein würde. Er ein Teil von mir, ich ein Teil von ihm. Jetzt sehen wir uns an, zwei Spiegelbilder, die zusammen und doch alleine leben, jedes für sich. Wenn ich ihn ansehe, sehe ich, dass er älter geworden ist. Dass wir älter geworden sind. Dass ich älter geworden bin. Ich schaue ihn ungern an. Wir betrachten uns, sagen nichts. Ich weiß, was er denkt. Er weiß, was ich denke. Weißt du noch, vor zwanzig Jahren, da hatten wir Träume, Wünsche, Visionen. Wir wollten die Welt bereisen, Abenteuer erleben, uns später gemeinsam niederlassen. Hauptsache wir beide, wir beide zusammen, solange wir uns haben, kann die Welt uns nicht in die Knie zwingen. Kinder? Natürlich, keine Frage. Unsere Kinder werden einmalig, wir werden sie mitnehmen auf unsere Reisen, mit ihnen zusammen die Welt entdecken, lernen, mit ihren Augen zu sehen. Wir werden Lebenskünstler sein, Lebenskünstler voller Liebe, Liebe für uns, für unsere Kinder.
Und wo sind wir jetzt? Haben wir all das vergessen, hinter uns gelassen, daran vorbei gelebt? Unsere Kinder sind doch einmalig und liebenswert, nicht wahr? Kleine große Helden, Künstler, voller Fantasie. Ja, vermutlich. Wo ist unsere Energie geblieben? Wir wollten mit unseren Kindern die wunderbarste Zeit unseres Lebens verbringen, Geschichten erfinden, barfuß laufen, Kissenschlachten machen, im Regen tanzen. Wer sind wir geworden? Was wird aus uns?
Unbequeme Fragen, die wir nicht beantworten wollen, aber beantworten könnten, wenn wir uns mit ihnen auseinandersetzen würden. Aber das tun wir nicht. Stattdessen macht er rasch noch eine Flasche Wein auf, ich bedanke mich erneut für die Tankestellenrosen, dann wenden sich unsere Blicke wieder dem Fernseher zu.
Noch sage ich, dass eine solche Szenerie ein Albtraum für mich wäre. Aber was, wenn ich in zwanzig Jahren denke, dass genau das immer mein größter Traum war?
Es gibt Menschen, die sich ständig allen mitteilen müssen. Denen jeder zuhört. Die es lieben, angesehen und angehört zu werden. Die es brauchen. Die stolz darauf sind, mit jedem klarzukommen. Es gibt Menschen, die brauchen immer Andere um sich herum. Die in Gesellschaft aufleben. Die in Gesellschaft leben. Smalltalk-Künstler, Alle-Kenner, Stille-Hasser.
Menschen, die sich ohne Weiteres anderen anvertrauen können. Die frei und ungezwungen über ihre Probleme, Gefühle und Gedanken reden. Die Gespräche brauchen wie die Luft zum Atmen.
Und dann gibt es Menschen, die erst auf den zweiten Blick wahrgenommen werden. Die manchmal gar nicht wahrgenommen werden. Die es aber auch nicht stört. Nachdenker, Beobachter. Menschen, die sich viele Gedanken machen, aber nicht darüber sprechen. Die sich manchmal ihre eigene Welt erschaffen, weit weg von allem. Die Hemmungen haben, einfach drauf los zu reden. Die sich nicht vorstellen können, dass jemand sich für ihre Gedankengespinste interessieren könnte. Menschen, die vielleicht enttäuscht worden sind. Die immer wieder enttäuscht worden sind und sich nun lieber zurückhalten, um sich selbst zu schützen. Menschen, die zuhören, besonders sich selbst. Denen die Welt viel zu schnell ist. Die in Gedanken versinken können. Die in Musik versinken können. In sich selbst versinken können. Menschen, die die Kunst beherrschen, das Alleinsein zu genießen. Die mit der Zeit gelernt haben, dass sie sich selbst ein guter, wenn nicht sogar der beste Zeitgenosse sind. Die nichts von Smalltalk halten. Die nur reden, wenn sie möchten, wenn es vielleicht nicht anders geht. Die früher, ganz früher mal, neidisch auf die anderen Menschen waren, die wie selbstverständlich Kontakte knüpfen und pflegen. Die sich jetzt aber nicht mehr wünschen, anders zu sein, da sich sich selbst genug sind. Eigenbrötler, Träumer, Einzelgänger. Genau wie ich.