Das kleine Mädchen in der Latzhose steht auf einem Hocker vor dem Spiegel. Die Bastelschere in der Hand, die Zungenspitze lugt zwischen den Zähnen hervor, sie ist hoch konzentriert. Es ist Samstagmorgen, früher Morgen, die Sonne ist gerade erst verschlafen am Horizont aufgetaucht. Das Mädchen betrachtet sich kritisch. Dann nimmt sie eine Strähne ihres strohblonden Haars und schneidet sie ab. Schnipp. Ein kleines Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Erneut hebt sie die Hand mit der Schere, die nächste Strähne fällt auf das dunkle Parkett. Stück für Stück, Strähne für Strähne, vollkommen ruhig, schneidet sie sich die Haare ab. Vorher schulterlang, jetzt kurz, wie ein Junge. Als sie fertig ist, nimmt sie ihr Werk in Augenschein. Sie ist zufrieden. Ihre Mutter schläft im Nebenzimmer, samstags schläft sie immer lang. Samstag ist auch immer der Tag, an dem fremde Männer am späten Nachmittag das Haus verlassen, selten ist es zweimal derselbe.
Das Mädchen in der Latzhose mit dem kurzen Haar holt den Staubsauger, um ihr langes Haar, das ihre Mutter so liebt, aufzusaugen. In der frühmorgendlichen Stille scheint der Staubsauger noch lauter zu sein als sonst. Bald steht die Mutter in der Tür. Verschlafen, schwarze Ringe vom verwischten Make-Up unter den Augen, eine Zigarette in der Hand. Sie versteht nicht, was sie sieht. Es ist zu laut, zu früh, zu hell. Ist das ihr kleines Mädchen? Was hat sie getan. Was hast du getan, fragt sie benommen, was hast du getan. Das Mädchen macht den Staubsauger aus. Ich habe dir doch so gerne Zöpfe geflochten, Frisuren gemacht, mit Schleifen und Spängchen und allem drum und dran. Schau doch, mein schönes langes Haar, willst du denn nicht so aussehen wie ich?
Das kleine Mädchen antwortet nicht. Es tritt auf die Stelle am Staubsauger, auf die man treten muss, damit die Schnur surrend im Inneren verschwindet. An Regentagen kann man sich damit wunderbar die Zeit vertreiben. Aber heute ist kein Regentag.
Ich gehe jetzt raus, sagt das kleine Mädchen. Die Mutter zieht sich wieder ins Schlafzimmer zurück, dort warten zerwühlte Laken, stickige Dunkelheit und ein fremder Mann auf sie.
Das Mädchen in der Latzhose geht nach draußen und legt sich auf das Trampolin im Nachbargarten. Sie darf das, nimmt sie an. Beschwert hat sich noch nie jemand, wenn sie minutenlang, stundenlang, regungslos auf dem Rücken lag und in den Himmel geschaut hat. Sich im endlosen Blau verloren hat, nach Wolkentieren gesucht hat, sich weggeträumt hat. Vielleicht ist es ein magisches Trampolin, ein Trampolin, das sie unsichtbar macht, sobald sie es betritt.
Aber heute besitzt es keine magischen Kräfte. Schritte nähern sich, das Mädchen kehrt langsam in die wirkliche Welt zurück. Der Nachbarsjunge steht vor dem Trampolin. Er ist älter als sie, nach dem Sommer kommt er schon in die vierte Klasse. Er fragt, ob er auch aufs Trampolin kommen darf. Sie nickt, natürlich, es ist ja seins, aber lieber wäre sie allein. Aber nett ist es schon, dass er fragt. Er legt sich vorsichtig neben sie und sagt kein Wort. Er macht es ihr leicht, sich vorzustellen, sie sei immer noch ungestört. Schon bald ist sie mit den Gedanken schon wieder weit weit fort. Aber irgendwas ist anders. Behutsam, um ihn nicht in seinen Tagträumereien zu stören, dreht sie den Kopf in ihre Richtung. Er hat sie die ganze Zeit angeschaut. Sie sieht seine grünen Augen, seine Sommersprossen. Er lächelt sie an und sagt, die kurzen Haare stehen dir gut. Das Mädchen in der Latzhose sagt nichts, sie lächelt nur still zurück.
toll geschrieben. In dem kleinen Mädchen finde ich mich wieder:)
ich mag die Rolle des Mädchens.
Sie ist tapfer. Bewundernswert
Aber niemand sagt es ihr.
Vielleicht weiß sie das auch so