Persönliches Albtraumszenario Nummer 1
Ich in zwanzig Jahren:
Nach einem langen und öden Tag im Büro, dessen Highlight die Mittagspause mit meinen ebenso langweiligen und öden Kollegen war, komme ich nach Hause. Nach Hause in die Eigentumswohnung, für die er und ich so hart gearbeitet haben. Mittlerweile haben wir unser Ziel vom trauten Heim, Glück allein, verwirklicht, trotzdem arbeiten wir weiterhin hart. Wir arbeiten und arbeiten, denn was erwartet uns schon zu Hause? Ein familiärer Feierabend, bestehend aus einem gemeinsamen Abendessen und einem anschließenden Aufenthalt vor dem Fernseher. Vermutlich hat er was gekocht, er kommt früher als ich von der Arbeit, einer muss ja die Kinder abholen. Vielleicht gibt's aber auch aus Bequemlichkeit was vom Chinesen oder von der Pommesbude unseres Vertrauens. Ich frage Kind 1, wie es in der Schule war und Kind 2, wie es im Kindergarten war. Beide erzählen mir mit leuchtenden Augen Geschichten, Erlebnisse, Gedanken, aber ich höre nicht hin, nicke nur halbherzig, mit den Gedanken bin ich noch bei meinem Bürojob. Wenn ich aufmerksamer hinsehen würde, würde mir vielleicht auffallen, dass ihre Augen mal heller geleuchtet haben. Er blödelt mit den Kinder herum, bringt sie zum Lachen, bis es darum geht, wer die den Tisch ab- und die Küche aufräumt. Kind 1, du weißt, Mama und Papa haben den ganzen Tag hart gearbeitet, du kannst ruhig mal etwas helfen und Kind 2, du packst auch mit an, in deinem Alter hab ich schon ganz andere Sachen gemacht. Die Kinder machen sich maulend an die Arbeit, fangen an sich zu streiten. Ich weise sie entnervt zurecht. Muss das denn immer sein? Müsst ihr euch immer immer streiten? Wir setzen uns in die Fernsehsessel, er rechts, ich links, er mit Kind 1 auf dem Schoß, ich mit Kind 2. Wir schauen auf die Mattscheibe und haben uns nichts zu sagen. Dann geht es ins Bett, er liest Kind 1 eine Gutenachtgeschichte vor, ich lausche seiner Stimme und erinnere mich vage, dass es mal eine Zeit gab, in der ich nichts lieber gehört habe. Kind 2 nehmen wir mit in unser Bett, es füllt die Leere, den Abstand, die Distanz zwischen uns aus.
Am nächsten Tag dasselbe Szenario. Am Tag danach auch. Dann ist Freitagabend, Wochenende. Er bringt mir in Plastik verpackte Tankstellenrosen mit und ich freue mich darüber. Zur Abwechslung bestellen wir uns Pizza. Für uns gibt es Wein, für die Kinder Limonade. Die Kinder schlafen später vor dem Fernseher ein, wir sind noch wach und sehen uns an. Früher, vor Jahren, konnten wir Stunden damit verbringen, uns anzusehen. Uns in den Augen des anderen verlieren. Wir sahen unser Spiegelbild in den Augen des Gegenüber, fühlten die Magie und dachten, dass es immer so sein würde. Er ein Teil von mir, ich ein Teil von ihm. Jetzt sehen wir uns an, zwei Spiegelbilder, die zusammen und doch alleine leben, jedes für sich. Wenn ich ihn ansehe, sehe ich, dass er älter geworden ist. Dass wir älter geworden sind. Dass ich älter geworden bin. Ich schaue ihn ungern an. Wir betrachten uns, sagen nichts. Ich weiß, was er denkt. Er weiß, was ich denke. Weißt du noch, vor zwanzig Jahren, da hatten wir Träume, Wünsche, Visionen. Wir wollten die Welt bereisen, Abenteuer erleben, uns später gemeinsam niederlassen. Hauptsache wir beide, wir beide zusammen, solange wir uns haben, kann die Welt uns nicht in die Knie zwingen. Kinder? Natürlich, keine Frage. Unsere Kinder werden einmalig, wir werden sie mitnehmen auf unsere Reisen, mit ihnen zusammen die Welt entdecken, lernen, mit ihren Augen zu sehen. Wir werden Lebenskünstler sein, Lebenskünstler voller Liebe, Liebe für uns, für unsere Kinder.
Und wo sind wir jetzt? Haben wir all das vergessen, hinter uns gelassen, daran vorbei gelebt? Unsere Kinder sind doch einmalig und liebenswert, nicht wahr? Kleine große Helden, Künstler, voller Fantasie. Ja, vermutlich. Wo ist unsere Energie geblieben? Wir wollten mit unseren Kindern die wunderbarste Zeit unseres Lebens verbringen, Geschichten erfinden, barfuß laufen, Kissenschlachten machen, im Regen tanzen. Wer sind wir geworden? Was wird aus uns?
Unbequeme Fragen, die wir nicht beantworten wollen, aber beantworten könnten, wenn wir uns mit ihnen auseinandersetzen würden. Aber das tun wir nicht. Stattdessen macht er rasch noch eine Flasche Wein auf, ich bedanke mich erneut für die Tankestellenrosen, dann wenden sich unsere Blicke wieder dem Fernseher zu.
Noch sage ich, dass eine solche Szenerie ein Albtraum für mich wäre. Aber was, wenn ich in zwanzig Jahren denke, dass genau das immer mein größter Traum war?